Die Nacht war kurz. Müde schlurfen wir in den Speiseraum zum Frühstück. Es gibt Brötchen, Marmelade, Käse. Und weil Sonntag ist, sogar ein Ei. Die Konfis bekommen kaltes Wasser oder Tee. Wir Alten dürfen Kaffee trinken. Dafür bin ich an diesem Morgen dankbar. Wir sind auf Konfifreizeit.
Ich sitze „mittendrin“, umgeben von Konfirmand:innen, die über ihre tagesaktuellen Themen reden: Es geht um „Flammen“ bei Snapchat, die man nicht verlieren darf. Und ich verstehe nicht, wofür man das braucht. Offenbar bin ich älter, als ich mich fühle. Es geht um Frisuren mit Locken oder ohne, um Musik und Musikinstrumente, darum wie schlimm Tuba-Spielen ist und was nochmal eine Klarinette war. Und es geht um die Schule. Ein unvermeidliches Thema. Ich bin trotzdem neugierig und höre zu.
Mir wird einmal mehr deutlich, was für eine alles bestimmende Wirklichkeit die Schule im Leben von Jugendlichen ist. Wenn man ihnen lauscht, könnte man fast meinen, es gäbe nichts anderes. Zumindest nichts anderes, was auch noch wichtig ist. Es ist, als gäbe es nur Zensuren, Französischtests und Matheklausuren und die Frage: Was willst du später machen? Als ich meiner jugendlichen Sitznachbarin sage, dass ich persönlich finde, dass sie das in ihrem Alter noch nicht wissen muss („Du hast noch Zeit und es kann noch so viel passieren. Vielleicht entdeckst Du morgen ein verborgenes Talent an dir und alles wird anders.“), da bekommt sie feuchte Augen. Dann sagt sie streng: „Aber es wird erwartet!“ … Natürlich, ich habe leicht reden. Ich gehöre ja auch zu denen, die schon Kaffee trinken dürfen.
Die anderen sprechen über die Marotten ihrer Lehrer, über den Unterricht, darüber wie ungerecht sie Bewertungen empfinden, und ich beginne mich zu fragen, ob es eigentlich auch etwas Gutes an der Schule gibt. Ich stelle diese Frage laut und die Gespräche verstummen. Ich kann sehen, wie es in den Köpfen arbeitet. Als Antwort bekomme ich aber nur ein: „Hm, ich weiß nicht …“ Eine ernüchternde Bilanz, denke ich und köpfe mein Frühstücksei.
Mich hat das beschäftigt, die „Sache mit der Schule“ und die feuchten Augen. Aber auch die Frage nach dem Guten. Es scheint nicht so einfach zu sein, das Gute wahrzunehmen und es dann festzuhalten. Im letzten Monat hatte ich selbst noch darüber geschrieben: „Prüft alles und das Gute behaltet.“ ist die Jahreslosung 2025. Ich hatte es wie ein spielerisches Experiment aussehen lassen. Das ist es auch, bzw. das kann es auch sein. Das ist die eine Seite. Die andere ploppte nun aber am Frühstückstisch auf. Als Frage: Gibt es etwas Gutes? Vielleicht liegt die Schwierigkeit ja darin, überhaupt zu wissen, was das Gute ist?
So finde ich mich ein paar Tage später in einer personalstarken Sitzung wieder, in der vier Kirchengemeinderäte darüber beraten, ob eine Fusion ihrer Gemeinden ein guter Weg ist und wenn ja, wie er konkret aussehen soll, damit er gut ist. Die einen sind sich schon sicher: Ja, die Fusion mit so vielen wie möglich ist der einzig gute Weg. Andere denken noch nach. Nicht aus Unentschlossenheit, sondern weil sie noch nicht wissen, ob es wirklich das Gute ist. So ist es ein Ringen, mit sich selbst, mit anderen und mit tiefen Überzeugungen. Es ist ein Ringen um das Gute für die Gemeinden, für die Menschen, für unsere Orte, ein Ringen um das Gute, das letztlich alle wollen, die da im Gemeindesaal versammelt sind. Aber die Frage bleibt.: Was ist es genau? Gibt es das Gute?
Fragt man das die Philosophen, dann rücken die sich ihre Brille zurecht, nehmen einen Schluck Kaffee und holen tief Luft. Die einen sprechen dann von einem objektiven Guten, das man nur erkennen müsste. Die anderen bekommen dabei Schnappatmung und widersprechen. Sie sagen, dass es das objektiv Gute nicht gibt. Es läge vielmehr alles am Menschen und an seiner subjektiven Sicht auf die Dinge. Die Philosophen helfen also nicht weiter. Fragt man den ersten Thessalonicher Brief, aus dem die Jahreslosung stammt, dann kann man unter dem Guten vielleicht eher das verstehen, was dienlich ist. Was nützt es? Nützt es dem Zusammenleben? Nützt es der Gemeinde, nützt es den Menschen im Miteinander und im Gegenüber zu Gott, nützt es dem Glauben, oder tut es das nicht? Vielleicht weiß man Genaues wie so oft erst hinterher?
So bleibt es auch da eine Frage, ein Ringen. Deswegen schreibt der Thessalonicher denn auch, dass man dem Guten nachjagen muss, in Geduld, füreinander und für jedermann.
Wie das gehen kann, kann man vielleicht von den Isländern lernen. Auf deren Inselchen brach 2010 der Vulkan Eyjafjallajökull besorgniserregend aus, und die Anzahl der jährlichen Touristen brach besorgniserregend ein. Da kam der isländische Präsident auf eine verrückte Idee: Er gab jedem Isländer eine Stunde frei. Statt zu arbeiten, sollten sich die Leute in dieser Zeit Gedanken darüber machen, was sie persönlich an ihrer Insel gut finden. Dazu machten sie dann kleines Video, das sie auf Instagram, Tiktok oder Youtube teilten. Andere schrieben einen Beitrag und machten Fotos. Alles ging übers Internet um die Welt. Inzwischen werden die freien Betten auf Island gelegentlich knapp. Man stelle sich das einmal ähnlich für die Kirche vor!
Vielleicht kommen wir ja so, dem Guten auf die Spur. Deswegen mache ich einmal den Anfang: Ich finde gut, dass Kirche ein Zusammensein ist, bei dem ich von Jugendlichen etwas über die „Flammen“ bei Snapchat lerne und gleichzeitig mit ihnen über ihre (und meine) tiefen Lebensfragen reden kann. Wo gibt es diese großartige Mischung sonst? Sie ist etwas von dem Guten, von dem ich denke, dass wir ihm nachjagen und das wir behalten sollten.
Jetzt aber sind Sie dran, wenn Sie wollen. Ich kann ihnen leider keine Stunde frei geben. Aber vielleicht geht es auch so. Wenn Sie mögen, dann machen Sie gerne mit bei der Jagd nach dem Guten und schreiben mir. Ich bin gespannt.
Ihr Pastor
René Enzenauer