Aumühle Editorial - Grußwort Juni:


Grußwort Juni

Leo XIV. ist neuer Papst. Wir haben Konfirmationen gefeiert. Und mein Scheibenwischer war kaputt. Manchmal verbinden sich Weltereignisse mit regionalen Anlässen und banalen Begebenheiten. So auch diesmal. 

Zunächst der Scheibenwischer. Er ließ sich plötzlich nicht mehr ausschalten! Was das fürs Autofahren und für die eigene Psyche bedeutet, können Sie vielleicht ahnen, wenn Sie einmal bei strahlendem Sonnenschein mit angeschaltetem Scheibenwischer durch eine Ortschaft gefahren sind und dabei auf den Gesichtsausdruck der Fußgänger und des Gegenverkehrs geachtet haben. Das Auto musste zur Reparatur! Und dort passierte etwas, was mich eine Weile beschäftigte.

Es begann damit, dass ich in einer neuen Werkstatt meines Vertrauens anrief und sofort einen Menschen am Hörer hatte, mit dem ich einen Termin vereinbarte. In meiner alten Autowerkstatt musste man Termine über die Website buchen, weil telefonisch nie jemand erreichbar war. Das zweite ungewöhnliche Ereignis erlebte ich dann, als ich das Auto in die Werkstatt brachte: Man redete mit mir. Anders als ich es gewohnt war, gab es keinen Monitor, auf den der Mitarbeiter minutenlang starrte und mit der Maus herumklickte, während er mich unbeachtet stehen ließ. Hier äußerte der Mechaniker seine Verdachtsdiagnose und erklärte mir das weitere Vorgehen – und das ganz oldschool mit Reden und ohne Computerausdruck. Zum Schluss notierte er sich noch meine Telefonnummer auf einem ordinären Zettel, der seinen Zweck erfüllte: zwei Tage später rief man mich an, um mir zu sagen, dass das Auto repariert sei.

“ich es als wohltuend empfunden, dass man mich sah, mich wahrnahm, mit mir redete”

Mir ging noch lange nach, wie unterschiedlich sich diese Erfahrungen anfühlten. Ich gehöre normalerweise zu den Menschen, die unentspannt werden, wenn beim Hose kaufen hinter jedem Kleiderständer eine Mitarbeiterin hervorspringt, die mich „beraten“ will. In diesem Fall aber habe ich es als wohltuend empfunden, dass man mich sah, mich wahrnahm, mit mir redete und sich mehr mit mir befasste als mit den Prozessen, die ein firmeninternes Computer- bzw. Verwaltungssystem vorgibt. Es gab Kontakt, eine Verbindung zwischen mir und meinem menschlichen Gegenüber. Und das war gut.

Es gab Kontakt, eine Verbindung zwischen mir und meinem menschlichen Gegenüber. Und das war gut.

Über diesen Gedanken stolperte ich ein zweites Mal auf einer Konfirmationsfeier. Nach den Gottesdiensten drehte ich meine Besuchsrunde und wurde dabei in ein Gespräch verwickelt. Jemand stellte die These auf, dass unsere Gesellschaft auseinanderfalle, weil es wenig bzw. immer weniger gibt, was sie verbinde. Da sei kein Zusammengehörigkeitsgefühl mehr. Man spüre nicht mehr, dass es eine geistige Verbindung zwischen den Menschen gibt.  Stattdessen versinke jede und jeder nur noch in der sozialen Blase, in der er lebt, und erkläre den anderen im schlimmsten Fall zum Feind, mindestens aber für fehlgeleitet. Man lebe aneinander vorbei. Man schaue aneinander vorbei. Das Ergebnis sähen wir dann in den Wahlergebnissen.

Ob diese Analyse stimmt, weiß ich nicht. Aber dann wurde auch noch der neue Papst gewählt. Und der sagte in seiner ersten Rede von der Benediktionsloggia immer wieder ein Wort: „Tutti“ – „Alle.“ und umriss damit seine Vision von Kirche: eine Kirche für alle. Offen für alle. Und für alle da.

Zusammenführen. Verbinden. Zusammenhalten.

„Recht hat er.“, denke ich als Protestant und bin gespannt, wie er das umsetzen wird. Institutionen wie die Kirche(n) mit ihren Regeln und Glaubenssätzen neigen strukturell immer dazu, eher auszugrenzen als zu integrieren – auch wenn die Selbstwahrnehmung oft eine andere ist. 

Dennoch meine ich, dass eine der wichtigsten Aufgaben der Kirche in unserer Zeit genau in dieser Integration liegt: Zusammenführen. Verbinden. Zusammenhalten.

Das Bewusstsein und die Möglichkeiten dafür schaffen, dass Menschen einander wahrnehmen, in ihrem Denken und Handeln, in ihrem Glauben und Zweifeln. Das aber ist nicht Aufgabe eines „obersten Brückenbauers“, sondern es ist unsere – wie und wo auch immer. Die einfachste Möglichkeit ist dabei wohl das Hinschauen und miteinander Reden. Damit könnte es anfangen. Denn dass das gut tut, das kann man an so etwas Banalem wie einer Scheibenwischerreparaturerfahrung sehen. Und wer weiß, vielleicht springt dieser magische Funke der Begegnung dann ja auch über, auf die Institution Kirche und auf die Welt um uns herum.

Ihr Pastor
René Enzenauer